Hier gehört sie eigentlich nicht hin, weil sie natürlich eher eine Drehorgel ist. Aber irgendeine Systematik muss man ja finden.

Also: Die Thibouville-Lamy ist eine Kartonnotenorgel mit Stimmzungen - deshalb bei den Zungeninstrumenten, genau wie die Mignon. Sie wurde zwischen 1890 und 1910 von einem bekannten französischen Musikinstrumentenhersteller aus Mirecourt hergestellt.

Die Firma von Jerome Thibouville-Lamy hat so ziemlich alle Kategorien von Musikinstrumenten (Holz- und Metallblasinstrumente, Geigen, Gitarren und mechanische Instrumente, diese teils unter Lizenz der Firma Gavioli) zwischen 1867 und etwa 1968 industriell hergestellt.


24er Thibouville-Lamy Ansicht

Wie kam es zu diesem "französischen Ausflug"? Mein Management hat auf dem 36. Berliner Drehorgelfest Bekanntschaft mit Shibaraku Asakusa aus Tokio gemacht, die auf einer 36er Odin-Zungenorgel hinreißend Chansons zum Besten gab. Auf dem Dorset Steam Fair hat dann ein freundlicher Bretone mit einer weiteren 36er Odin noch einmal die Aufmerksamkeit meiner Partnerin auf eine Zungenorgel gelenkt. Dem daraus entstandenen Wunsch meines Managements folgend habe ich dann die Website von Odin besucht und Instrumente angeschaut. Das war schön, aber trotzdem nicht meins, wenn ich schon (viel) Geld ausgebe, dann wenigstens für "was Historisches". Also wieder mal das Netz bemüht - in Deutschland sind diese Instrumente praktisch weder bekannt noch werden sie angeboten, deshalb ging es nach Frankreich.


Und hier nun eine ernstgemeinte Warnung:

Natürlich gab es ein Angebot für eine Thibouville-Lamy auf einem ziemlich obskuren südfranzösischen lokalen Verkaufsportal - aber immerhin ein Instrument in Walnuß mit 36 Tönen. Ich habe es versucht und den Käufer kontaktiert - und dabei sofort einmal den (namhaften) Preis auf ziemlich genau ein Drittel reduziert. Das Angebot wurde angenommen. Freunde des Onlinehandels, aufgemerkt! Wenn solche Reaktionen binnen weniger Stunden so passieren, ist es O B E R F A U L !!! Ich habe weiter den Kontakt gesucht und um einen Telefontermin nachgefragt; auch wenn man ein Instrument am Telefon klanglich kaum gut beurteilen kann: Wenn es einer zum Zeitpunkt des Anrufs spielt, ist es zumindest vorhanden... Das war ziemlich der letzte Austausch mit diesem Anbieter. Natürlich fand ich bei tieferer Recherche in einem weiteren solchen Verkaufsportal in Nordfrankreich original die gleichen Fotos, ähnliche Beschreibung unter anderem Verkäufernamen. Liebe Leser: Bitte versteht das als ernstgemeinte Warnung. Kein Mensch hat heute was zu verschenken, die Preise sind dank Internet ziemlich transparent und wenn jemand nicht gerade Haushaltwaren aus dritter Hand verkauft, kann er E-Bay nutzen. Ich will der E-Bucht wirklich nicht das Wort reden, aber ehe man 2000 Euro an irgendjemand blind bezahlt, ist ein E-Bay-Handel doch einfach die bessere Wahl. Und ein klein wenig Mißtrauen solltet Ihr immer beibehalten. Ich habe selbst wirklich hunderte von Internetgeschäften mit mir völlig unbekannten Anbietern gemacht und bin nie enttäuscht worden. Dennoch bleibt Vorsicht grundsätzlich angesagt!


Ich habe mich daraufhin halt bei vernünftigen Anbietern umgesehen, Thibouville sind nicht mal in Frankreich so schnell zu finden. Aber ich bin beim Stöbern auf der Seite eines Akkordeonbauers gelandet, der auch viele schöne mechanische Instrumente anbietet - vielleicht interessiert sich ja auch jemand für tolle Akkordeons:

www.laboitedaccordeon.fr

Laurent Jarry, der Besitzer des Ladens in Montreuil hatte eine 24er in Walnuß als komplett restauriertes Instrument anzubieten. Kauf und Abwicklung wie Verpackung und Versand waren toll und völlig unkompliziert, ich kann Laurent bestens empfehlen. Dafür gibt es auch einen Link auf meiner Linksite, er hat immer wieder schöne (auch mechanische) Instrumente von Interesse im Shop.

Spielseite Thibouville

Vorderseite Thibouville

Ich bin von dem Instrument sehr angetan. Man hat aufgrund des geringen Luftbedarfs der Zungenstimmen unendliche Variationsmöglichkeiten, weil man die Geschwindigkeit des Kartons praktisch beliebig variieren kann, zudem ist über das Öffnen und Schließen des Gehäusedeckels ein Piano-Forte-Spiel möglich, dass auf den Originalkartons sogar notiert ist. Da "Forte" hier nicht wirklich laut bedeutet, kann man zu dem Instrument auch sicher gut singen, vielfältiges Repertoire auf Kartonnoten gibt es immer noch von verschiedensten aktuellen Herstellern in Frankreich. Und dank der Kartonnoten ist man auch (anders als bei Rollenbandorgeln) recht schlagkräftig, der Wechsel eines Kartons dauert 30 Sekunden und jeder Karton enthält genau ein Stück Musik. Das ist immer noch kein Midi-Wünsch-Dir-Was, aber sicherlich besser als Notenbänder zurückzuspulen.


Wenn ich das vorher auch schon so eingesehen hätte, hätte ich eine Prinsen-Ghysels mit Kartonnoten, die mir Jef Ghysels mal angeboten hat, sicherlich gekauft.

Vielleicht ergibt sich das noch einmal.

Das Tonbeispiel stammt aus der Feder eines französischen, im Fin de siecle sehr populären Operettenkomponisten, Edmond Audran (1842 - 1901) und ist die Titelmelodie der Operette "Miss Helyett" von 1890.